Mit Passion für die Paralympics

Seit über 30 Jahren betreut Ulrich Niepoth regelmäßig Sportler bei den Paralympischen Spielen und anderen Wettkämpfen. Niepoth ist als Physiotherapeut mit eigener Praxis in Schlitz im mittelhessischen Vogelsbergkreis niedergelassen und hat darüber hinaus ein Sportstudium an der Sporthochschule Köln absolviert. Bereits als junger Student kam er in Kontakt mit dem Behindertensport – ein Interesse, das ihn seither nicht mehr losgelassen hat. Dieses Interview erschien in der Septemberausgabe des IFK-Fachmagazins "physiotherapie".

 

Sie betreuen als Physiotherapeut die Athleten während der Paralympics. Wie kamen Sie zu Ihrer Aufgabe und welche Disziplinen betreuen Sie?

Niepoth: Ich arbeite bereits seit 1991 im Behindertensport. Bereits als junger Student habe ich während meines Sportstudiums an der Sporthochschule Köln damit begonnen, das Thema meiner Diplomarbeit war Sitzvolleyball. Ich habe noch eine Ausbildung zum Physiotherapeuten angehängt, bin seit 1994 Physiotherapeut und seit 1997 auch Manualtherapeut.

Ich selbst habe in dieser Zeit beim TSV Bayer 04 Leverkusen Sitzvolleyball – zusammen mit Menschen mit und ohne Behinderung – gespielt und Inklusion erlebt. Sitzvolleyball ist neben Leichtathletik und Schwimmen eine der Kernsportarten innerhalb des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) und auch im paralympischen Kalender. Der DBS ist der Spitzenverband für den Leistungs-, Breiten-, Präventions- und Rehabilitationssport für Menschen mit Behinderung und das nationale Paralympische Komitee für Deutschland. Bayer Leverkusen ist einer der führenden Sportvereine in Deutschland mit einer guten Behindertensportabteilung und über diese Kontakte bin ich dann erstmals 1992 zu den Paralympischen Spielen nach Barcelona und 1996 nach Atlanta gekommen. 1998 habe ich mich mit meiner Physiotherapiepraxis in Schlitz selbstständig gemacht und erstmal pausiert.

2001 war dann wieder eine Stelle frei und ich habe mich beworben. Seither bin ich wieder im Einsatz für die Welt- und Europameisterschaften und bei kleineren Leistungslehrgängen. Die Paralympics sind natürlich die herausragenden Ereignisse, da war ich 2004 in Athen, 2008 in Peking, 2012 in London, 2016 in Rio und zuletzt 2021 in Tokio dabei. In Tokio lief wegen der Corona-Krise noch alles mit „Handbremse“.

Die paralympischen Disziplinen sind aufgeteilt in vier Blöcke: Sprint, Sprung, Wurf und Rollstuhlfahrer. Die Kategorie Rollstuhlfahrer umfasst die Wurfdisziplinen Kugelstoßen, Speerwerfen und Diskus, nur eben aus dem Rolli heraus, und die „Rennrollifahrer“ gehören auch dazu.Ich war hauptsächlich im Bereich Sprint und Sprung eingesetzt, gelegentlich auch bei Kugelstoßen und Diskus. Das entwickelt sich vielfach aus den persönlichen Kontakten. Im Laufe der Jahre zeigt sich, dass du gerne mit dem ein oder anderen Athleten zusammenarbeitest oder er mit dir. Und dabei habe ich schließlich auch meine Frau kennengelernt.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag während der Paralympics aus?

Niepoth: Die Arbeit beginnt schon im Vorfeld der Paralympics. Denn schon vorher müssen die Materialien bestellt werden. Wir Physiotherapeuten setzen uns dann zusammen, machen eine lange Liste, was alles gebraucht wird und klären, wie die benötigten Dinge zum Austragungsort kommen. Da die Olympischen Spiele immer vor den paralympischen Spielen stattfinden, finden wir eine gewisse Infrastruktur schon vor und übernehmen die Räumlichkeiten und einen Teil der Ausstattung wie etwa die Elektrotherapiegeräte aber auch die Materialien für Kälte- und Wärmeanwendungen. Alles andere müssen wir mitbringen: Tapes, Wundverbände, Tupfer, Kompressen, Regenerationssalben, Wärmesalben, kühlende Gels – und die Liste geht noch weiter. Für Tokio haben wir beispielweise einen ganzen Container gepackt und auf den Weg gebracht.

Vor Ort muss dann alles wieder ausgepackt werden, die Physiotherapieabteilung wird aufgebaut und Behandlungsstrecken bzw. -abläufe werden vorbereitet. In enger Absprache mit den Ärzten der Medizinabteilung wird dann ein Dienstplan erarbeitet. Grundsätzlich ist die Physiotherapie von sieben Uhr morgens bis abends um 23 Uhr durchgängig besetzt.

Wer welche Dienste in der „Praxis“ übernimmt, hängt von den Wettkampfzeiten der Sportler ab, die derjenige schwerpunktmäßig betreut. Wenn der Athlet einen Start hat, begleitet ihn in der Regel auch „sein“ Physiotherapeut. Das kann man sich so vorstellen: Das olympische Dorf ist weitläufig. Von einem zentralen Busbahnhof aus fahren die Sportler erst zum Aufwärmstadion und dann zum eigentlichen Olympiastadion. Da kann man schon unter die Räder kommen – bildlich gesprochen. Ich fahre mit dem Sportler also zur Wettkampfstätte, achte darauf, dass wichtige Dinge wie etwa die Startnummer nicht fehlen. Für den Sportler ist es eine große Beruhigung zu wissen: Der Uli geht mit ins Stadion, ist dabei und passt auf, dass mir auch beim Warmmachen nichts passiert. Mit den Ärzten ist es eine sehr schöne Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Hier gibt es kein Budget und kein Rezept, es geht einzig und allein um die optimale Versorgung des Athleten. Grundsätzlich muss man zusehen, dass nur gesunde Athleten anreisen. Wenn dann doch einer erkrankt oder sich verletzt, muss das Team entscheiden, ob er an den Start gehen kann oder nicht. Bei gesunden Athleten setzen wir vor allem auf Regeneration und Entspannung. Je näher der Wettkampf rückt, desto mehr muss man auch die Seele streicheln.

Gibt es Unterschiede in der Art der Betreuung zwischen Sportlern mit und ohne Behinderung?

Niepoth: Bei jedem Sportler – mit oder ohne Behinderung – muss man sich an dem orientieren, was vorliegt. Wie ist der Gesundheits- und Trainingszustand, was sind Schwachstellen, gibt es Verletzungen? Welche Sportart ausgeübt wird und welche Behinderung vorliegt, spielt natürlich auch eine Rolle. Ein beinamputierter Werfer hat dieselben muskulären Beanspruchungen und Probleme wie ein nicht-amputierter Werfer. Ein Rennrollifahrer dagegen, der die 400 Meter Sprint mit den Armen überwindet, hat natürlich keine Probleme mit den Beinen. Bei ihm liegt die Beanspruchung beim zervikothorakalen Übergang, in den Armen, bei Händen und Fingern. Bei Sportlern mit Behinderung müssen andere Besonderheiten berücksichtigt werden. Wenn beispielweise die Eröffnungsfeier länger dauert, es heiß ist und der Sportler mit prothetischer Versorgung stehen muss, können sich Stumpfprobleme entwickeln, die so gravierend sein können, dass der Athlet nicht zum Wettkampf antreten kann. Es müssen also Stühle her. Im Behindertensport tätig zu sein bedeutet, auch das Drum-und-Dran zu sehen.

Man darf nicht unterschätzen, dass die Sportler ein körperliches Handicap erlitten haben, dass trotz aller Erfolge im Hintergrund Spuren hinterlassen hat. Ich gehe daher mit einem erweiterten Verständnis von Therapie an die Sache heran. „Du bist gut, du schaffst das schon, ich komme mit zum Frühstück, wir fahren dann zusammen ins Stadium und ich trage auch deine Prothesentasche und so weiter“ – solche Ermunterungen gehören dazu und helfen enorm. Dadurch entwickelt sich häufig ein engeres Verhältnis zum Sportler. Da liegt man sich schon manchmal in den Armen, wenn es geklappt hat, verdrückt ein Freudentränchen und lässt dann abends den Korken knallen.

Wie tragen die Paralympics dazu bei, Menschen mit Behinderung für Sport und Spitzensport zu begeistern?

Niepoth: Der DBS setzt sich als Spitzenverband dafür ein, dass Menschen mit Behinderung zum Sport kommen. Er gehört mit 17 Landes- und zwei Fachverbänden, fast 6.300 Vereinen und rund 510.000 Mitgliedern zu den weltweit größten Sportvereinen für Menschen mit Behinderung. Im Vergleich zu entsprechenden Verbänden in anderen Ländern, die häufig stark leistungsorientiert auf wenige, paralympische Disziplinen setzen, versucht der DBS, möglichst viele Sportarten abzubilden und in der Breite Menschen mit Behinderung für den Sport zu begeistern. In Kooperation mit großen Vereinen, aber auch Kliniken und Sanitätshäusern werden

regelmäßig Schnuppertage oder andere Aktionen angeboten. Jeder kann kommen, mehrere Sportarten ausprobieren, und manchmal zeigt sich dann auch schon ein besonderes Talent. Anschließend gibt es die Talenttage, bei denen dann auch die Athleten dabei sind. Die Botschaft ist: Auch als Mensch mit Behinderung kannst du Sport treiben und erfolgreich sein! Glücklicherweise schaffen es die Paralympics durch eine größere mediale Präsenz – auch bedingt durch die sozialen Medien – immer mehr in die öffentliche Wahrnehmung. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass auch heute noch kaum jemand den Namen eines paralympischen Spitzensportlers kennt. Umso mehr freue ich mich, wenn etwa im Sportstudio über die Veranstaltung berichtet wird. Andere Länder sind uns da voraus, in Großbritannien beispielsweise werden auf einem Kanal die Paralympics komplett übertragen.

Der einzelne Sportler, der von den Paralympics zurückkommt, erhält aber auch eine Menge Anerkennung. Er ist nicht mehr der mit Defizit, sondern ein Gewinner. Die Familie feiert ihn, der Bürgermeister gratuliert und die Lokalpresse rückt an. Wenn es dann noch zu einer Einladung ins Bundespräsidialamt kommt… Ich selbst habe das mal mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler erlebt. Wir saßen zusammen auf der Bank im Park, die Sicherheitsleute um uns herum, daran erinnert man sich auch nach Jahren. Bei anderen kommt so die Botschaft an: Wenn die das können, dann kann ich das vielleicht auch. So wachsen der Wunsch und die Motivation, sich zu trauen und sportlich mit dabei zu sein. Für mich sind diese Menschen die wahren Helden. Sie hatten einmal Pech im Leben und zeigen jetzt, was sie können.

Wie vereinbaren Sie Ihre Tätigkeit in der eigenen Physiotherapiepraxis mit dem Einsatz bei den Paralympics?

Niepoth: Wer glaubt, damit richtig Geld zu verdienen, liegt falsch: Es gibt lediglich eine Aufwandsentschädigung. Man muss daher schon mit Begeisterung dabei sein. Es ist immer ein Spagat: Vor der Abreise wollen alle noch von dir behandelt werden und während der Abwesenheit muss die Arbeit in der Praxis weitergehen. Da ist man doch mit einem halben Ohr bei den Mitarbeitern zuhause. Und auch für die Familie ist es nicht einfach. Bei etlichen Familienfesten war ich nicht dabei und die Urlaube haben ebenfalls darunter gelitten, wenn es hieß: Erst einmal wieder Geld verdienen. Die 20 Jahre, die ich dabei war, haben viel Kraft gekostet. Als ich jung war, hatte ich die noch ohne Ende. Jetzt mit meinen 57 Jahren bin ich so weit, dass ich bald Platz für den Nachwuchs machen könnte. Ein bisschen würde ich aber noch gerne.

 

Fotos: Ulrich Niepoth

Lesen Sie hier das Interview mit Marco Pichler, der bei den Sommerspielen der Special Olympics World Games 2023 als Physiotherapeut mit dabei war.

 

Paralympics und Special Olympics

Die Paralympischen Spiele, auch Paralympics genannt, sind internationale Sportwettbewerbe für Sportler mit Körperbehinderung, die sich an der Idee der Olympischen Spiele orientieren. Die Paralympics werden organisiert vom Internationalen Paralympischen Komitee und sind aufgeteilt in Paralympische Sommerspiele und Paralympische Winterspiele. Die jeweiligen Spiele finden alle vier Jahre direkt im Anschluss an die Olympischen Sommerspiele bzw. Olympischen Winterspiele an denselben Orten statt. Die Special Olympics sind internationale Sportwettbewerbe für Menschen mit geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung. Die Veranstaltung ist vom Internationalen Olympischen Komitee offiziell anerkannt. Das Ziel von Special Olympics ist es, als Inklusionsbewegung Menschen mit geistiger Behinderung durch den Sport zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe zu verhelfen. Die Weltspiele (World Games) finden alle zwei Jahre im Wechsel mit den Sommer- und Wintersportarten statt. Die Sommerspiele 2023 fanden im Juni in Berlin statt.

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