Polyneuropathie: Medizinische Behandlung und konsequente Physiotherapie sind erforderlich

Dieser Gastbeitrag von Prof. Dr. Min-Suk Yoon erschien in der Januarausgabe unseres IFK-Fachmagazins physiotherapie.

Die Polyneuropathie ist eine Erkrankung, die keine Altersgrenzen kennt. Geschätzt leiden in Deutschland ca. sechs bis acht Prozent der Bevölkerung an einer Polyneuropathie. In der Alterskategorie bis zum 55. Lebensjahr liegt die Häufigkeit bei 2.400 von 100.000 (2,4 Prozent) und steigt deutlich an ab dem 55. Lebensjahr (8.000 von 100.000; 8 Prozent). Mit etwa 30 Prozent ist ein Diabetes mellitus die häufigste Ursache für eine Polyneuropathie, gefolgt von ca. 20 Prozent unklarer Polyneuropathie (CAP, kryptogene axonale Polyneuropathie). Mit etwa 14 Prozent liegen kausal behandelbare, autoimmune Polyneuropathien an dritter Stelle.

Es gibt kein beweisendes Symptom einer Polyneuropathie. In der Regel beschreiben Betroffene eine Empfindungsstörung in den Beinen. Dabei ist der Charakter der Empfindungsstörung sehr heterogen und reicht von unangenehmen (schmerzhaften) Missempfindungen (Kribbeln, Stechen, Brennen, Spannungsgefühl etc.) bis zur Taubheit. In weiter fortgeschrittenen Stadien können zunehmende Gangstörungen, koordinative Störungen und muskuläre Schwächen auftreten, die das Leben nachhaltig negativ beeinflussen. Nicht selten werden Hilfsmittel wie Gehstock, Rollator oder auch Orthesen benötigt.

Die Polyneuropathie tritt nicht immer symmetrisch in den Beinen auf. Gerade die autoimmunen Polyneuropathien können asymmetrisch und/oder auch fokal, das heißt nur in einer Extremität auftreten. Sie zeichnen sich unter anderem durch distale und proximale Paresen aus. Dabei variiert die Dynamik in Abhängigkeit des Erkrankungstyps erheblich von akut verlaufenden, schwerwiegenden Verlaufsformen und chronifizierten Verlaufsformen. Häufig gibt die ältere Patientenklientel einen Schwindel an, der jedoch in der genauen Befragung in der Regel einer Gangstörung zuzuordnen ist, die aufgrund der gestörten Nervenfunktion in den Beinen auftritt. Diese Patienten fallen durch einen eher breitbeinigen Gang auf (Gangataxie). Kennzeichnend ist dabei, dass diese Patienten im Sitzen den „Schwindel" nicht mehr angeben, sondern diesen ausschließlich im Stehen oder beim Gehen bemerken.

Auch wenn ein Diabetes mellitus die häufigste Ursache der Polyneuropathie darstellt, zeigen Untersuchungen, dass sich in dem Kollektiv der diabetischen Polyneuropathien unentdeckt viele Betroffene befinden, die an einer autoimmunen und damit auch kausal behandelbaren Polyneuropathie erkrankt sind. Folgende Merkmale könnten hilfreich sein, um diese Patienten zu erfassen:

  • Blutzucker ist sehr gut eingestellt (HbA 1 c < 7 Prozent)
  • kürzliche Erstdiagnose Diabetes mellitus
  • rascher Beginn und Dynamik trotz guter Blutzuckereinstellung
  • asymmetrische Ausprägung
  • distale und proximale (atrophisierende) Paresen

 Die Diagnostik der Polyneuropathie liegt in den Händen des Neurologen. Dabei wird mit Hilfe der Messung der Nervenleitgeschwindigkeit der Funktionszustand der Nerven erfasst. Es erfolgt die Unterscheidung, ob die Ummantelung der Nerven (Myelinschicht) oder aber das Kabel (Axon) einen Schaden erlitten hat.

Die Erfassung der Muskelpotenzialanalyse (Elektromyogramm, EMG) liefert darüber hinaus zusätzliche Hinweise darüber, wie weit fortgeschritten die Erkrankung ist und ob ein fortwährender Schaden erkennbar ist.

Neben zahlreichen Blutuntersuchungen, zum Beispiel nach einem B-Vitaminmangel und Hinweisen für Autoimmunerkrankungen, wird auch das Nervenwasser dahingehend untersucht, ob es Anzeichen für eine autoimmune Ursache der Polyneuropathie gibt.

Daneben können durch Ultraschalluntersuchungen oder besondere MRTs (sogenannte MR-Neurographie), die in spezialisierten Zentren angeboten werden, Erkenntnisse über die Veränderungen und das Muster der Schädigung gewonnen werden.

Zusätzlich kann mittels einer Blutuntersuchung (humangenetische Analyse; Erbgutanalyse) in unklaren Fällen die Ursache der Polyneuropathie weiter eingegrenzt werden. Im Falle der weiteren diagnostischen Unsicherheit steht mit der Nervenbiopsie eine Möglichkeit der Untersuchung des Nervengewebes zur Verfügung, die in spezialisierten Zentren durchgeführt werden sollte – aufgrund der Erfahrung, die es benötigt, einen Nerv zu untersuchen. 

Die Therapie der Polyneuropathie steht im Wesentlichen auf drei Säulen:

1)       kausale Therapie, das heißt die ursächliche Behandlung

2)       symptomatische Therapie, zum Beispiel Schmerztherapie

3)       unterstützende Therapie, zum Beispiel Physiotherapie, Ergotherapie, psychologische Begleitung

Die kausale Behandlung und die symptomatische Behandlung sind zwar essenziell, damit der Erkrankungsverlauf modifiziert und die Lebensqualität verbessert werden können (zum Beispiel Schmerztherapie). Parallel dazu sind jedoch regelmäßige und konsequente Physiotherapie und Ergotherapie erforderlich. Die Polyneuropathie ist eine chronisch verlaufende Erkrankung. Funktionsverlust/-einschränkung im Alltag der Betroffenen können den Verlust der Autonomie der Patienten nach sich ziehen. Daher benötigen die Betroffenen neben einer krankheitsmodifizierenden Behandlung auch Physiotherapie und Ergotherapie, die sich zielgerichtet und den notwendigen Bedürfnissen der Patienten angepasst den Funktionseinschränkungen der Patienten widmen.

Prof. Dr. Min-Suk Yoon ist ärztlicher Direktor des Evangelisches Krankenhaus Hattingen und Spezialist für Polyneuropathie.

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